Analphabeten in Deutschland

1972 beschäftigte sich ein amerikanischer Wissenschaftler mit der Frage, aus welchen Gründen bestimmte Themen in der Öffentlichkeit hochgespielt werden und andere nicht. Anthony Downs befasste sich schon damals mit einem Phänomen, das auch in diesem Frühjahr wieder auf der innenpolitischen Bühne zu beobachten war. Wochenlang beherrschte der Freiherr aus Franken die mediale Szene. Kommentarspalten über Kommentarspalten in nahezu allen überregionalen Medien, Sondersendungen auf allen TV-Kanälen, Talk-Shows – alles drehte sich um die Frage, wie man mit wissenschaftlichen Arbeiten umgehen sollte, die sich in weiten Teilen als Plagiate herausstellen. Sicher eine wichtige Fragestellung, nicht nur im Elfenbeinturm.

Ganz nebenbei konnte man zur selben Zeit in den Zeitungen lesen, dass Bundesbildungsministerin Schawan die niederschmetternden Ergebnisse einer Studie vorlegte. Hätte sich diese Studie mit Plagiatsvergehen bei Dissertationen beschäftigt, ihr wäre der Durchmarsch in die beste Sendezeit der Tagesschau sicherlich gelungen. Doch es ging „lediglich” um die Frage, wie viele Menschen in der Bundesrepublik leben, die weder vernünftig lesen noch halbwegs ordentlich schreiben können.

Die Bundesrepublik beherbergt nach dieser Untersuchung sage und schreibe 7,5 Mio. „funktionale Analphabeten“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass nahezu jeder elfte Mitbürger unfähig ist, zumindest aber erhebliche Mühe hat, einfachste Sätze in ihrem Sinnzusammenhang zu erfassen. 7,5 Mio. Menschen – das entspricht der gesamten Einwohnerzahl von Rheinland-Pfalz, Thüringen und dem Saarland! Doch die Nachricht von den Analphabeten schaffte es nicht auf die Titelseiten, sondern sie wurde lediglich „unter ferner liefen“ platziert. Fast überall blieb der Aufschrei aus. Denn diese Analphabeten haben keine Lobby. Zudem zählen sie nicht zu den A-Kunden der Printmedien; aus nachvollziehbaren Gründen. Und bei Wahlen kann man mit diesem Thema sicher auch nicht punkten.

Wie aber sollen Analphabeten in dieser schnelllebigen Zeit am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben wirksam teilhaben, wenn ihr Problem nicht konsequent angegangen wird? Hierüber sollten die klügsten Kommentatoren, Kritiker, Intellektuellen und Politiker sicher mindestens ebenso heftig nachdenken wie über die Frage, ob ein rhetorisch brillanter Minister (oder dessen Helfer) einfach ein wenig zu viel abgekupfert haben. Die 7,5 Mio. funktionalen Analphabeten wären schließlich schon froh, wenn sie – wie der Freiherr – fehlerfrei abschreiben könnten.

Klaus Gräbener
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Der Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung von Herrn Klaus Gräbener. Herr Gräbener ist im Bereich Aus- und Weiterbildung.