Auch Führungskräfte müssen reifen

(Junge) Führungskräfte müssen ihr Führungsverhalten reflektieren, damit aus ihnen Führungspersönlichkeiten werden. Sie müssen sich also regelmäßig fragen: Was mache ich bereits gut und was könnte ich wie noch besser machen? Zum Beispiel in Supervisionssitzungen, in denen sie sich mit Kollegen über ihre Erfahrungen und Probleme austauschen.

Seit einigen Jahren halten in den Non-Profit-Organisationen zunehmend Managementmethoden Einzug, die sich in der Wirtschaft bewährt haben. Ähnliches geschieht in umgekehrter Richtung. Unternehmen nutzen aufgrund der veränderten Arbeitsbeziehungen zunehmend Verfahren, die ursprünglich im Non-Profit-Bereich zuhause waren. Eine hiervon ist die Supervision. Sie hat sich in den letzten 30 bis 40 Jahren im sozialpädagogischen und -therapeutischen Bereich zu der Methode entwickelt, mit der die dort Arbeitenden ihr berufliches Handeln reflektieren und versuchen die Qualität ihrer Arbeit zu sichern.

Welche Bedeutung die Supervision im Non-Profit-Bereich als Instrument der Qualitätssicherung hat, zeigt unter anderem folgende Tatsache: In Stellenanzeigen für (Sozial-)Pädagogen und Therapeuten wird von Bewerbern oft explizit die Bereitschaft zur Supervision gefordert. Doch nicht nur dies! Häufig versuchen soziale Organisationen mit dem Hinweis, dass sie dem künftigen Stelleninhaber die Möglichkeit zur Supervision bieten, sich sogar als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren.

Manch Unternehmensführer mag dies befremden. In nicht allzu ferner Zeit könnte aber in Stellenanzeigen von Wirtschaftsunternehmen statt dem Hinweis auf den „repräsentativen Firmenwagen“ stehen „Wir bieten Ihnen die Möglichkeit zur Supervision“ – zumindest wenn Führungspositionen neu zu besetzen sind.

Aus folgendem Grund: Lange Zeit wurden im Wirtschaftsbereich Unternehmen weitgehend mit ihren Organigrammen gleichgesetzt beziehungsweise den hierarchischen Strukturen, die diese widerspiegeln. Übersehen wurde, dass die Energie eines Unternehmens weder in dessen Strukturen, noch in dessen einzelnen Mitarbeitern ruht. Sie liegt vielmehr in den Arbeits- und Kommunikationsbeziehungen, die die Mitarbeiter miteinander und das System Unternehmen mit seiner Außenwelt verbinden.

Im zurückliegenden Jahrzehnt haben dies die meisten Unternehmen erkannt. Deshalb förderten sie unter anderem die Bereichsgrenzen und Hierarchieebenen übergreifende Team- und Projektarbeit. Auch die Funktion der Führungskräfte wurde neu definiert. Als ihre Kernaufgabe wird heute weitgehend verstanden, die Beziehungen

  • zu ihren Mitarbeitern,
  • zwischen ihren Mitarbeitern und
  • zu den anderen Unternehmensbereichen

so zu gestalten, dass eine möglichst effektive Zusammenarbeit entsteht. Außerdem sollen sie dafür sorgen, dass sich die Kompetenz ihrer Mitarbeiter so entwickelt, dass diese auch dann noch ihren Beitrag zum Erreichen der Bereichs- und Unternehmensziele leisten (können), wenn sich die Anforderungen an sie wandeln.

Menschen „ticken“ anders als Maschinen

Das fällt vielen Führungskräften in Wirtschaftsunternehmen schwer. Unter anderem, weil sie oft ein anderes Menschenbild haben als die Personen, die im Sozialbereich arbeiten. Pädagogen und Therapeuten erachten es als selbstverständlich, dass sich im Denken und Handeln jedes Menschen dessen Geschichte und Erfahrungen widerspiegeln. Deshalb ist es für sie „normal“, dass Menschen auf dieselben Herausforderungen und Impulse unterschiedlich reagieren. Vielen Führungskräften fehlt ein solches Menschenbild. Deshalb verstehen sie oft nicht, warum Mitarbeiter auf dasselbe Verhalten von ihnen unterschiedlich reagieren.

Hinzu kommt: Auch ihr eigenes Denken und Handeln begreifen viele Führungskräfte nicht als das Resultat ihrer Geschichte und des sozialen Kontextes, in den sie eingebettet sind. Deshalb ist ihnen vielfach nicht bewusst, dass sie im Umgang mit Menschen stets dieselben Verhaltensmuster zeigen. Und noch weniger verstehen sie, warum dies so ist. Also sehen sie auch keinen Ansatzpunkt, um gewisse Verhaltensmuster von sich zu ändern – zum Beispiel, um die Kommunikation mit ihren Mitarbeitern zu verbessern.

Auch Führungs-KRÄFTE entwickeln sich

Eng damit zusammen hängt, dass viele Führungskräfte ihr von der Technik oder Betriebswirtschaft geprägtes Entwicklungsverständnis auf Menschen übertragen. Dabei signalisiert bereits die deutsche Sprache, dass hier ein Unterschied besteht: Maschinen werden entwickelt; Menschen hingegen entwickeln sich.

Weil ihnen dieser Unterschied nicht bewusst ist, wirken manche Führungskräfte auf Außenstehende zuweilen wie Gärtner, die an Grashalmen ziehen, damit das Gras schneller wächst. Das heißt, sie konzipieren Fördermaßnahmen für ihre Mitarbeiter und übersehen dabei, dass ihr Bemühen vergebens ist, wenn

  • die Betroffenen nicht bereit sind, sich zu entwickeln, und
  • sie ihnen nicht ausreichend Zeit zum „Wachsen“ lassen.

Oder sie beschließen Umstrukturierungen und übersehen dabei, dass sie hierdurch zwar etwas verändern, aber nichts entwickeln – weder Menschen noch Beziehungen.

Vielen Führungskräften fehlen außer dem Know-how auch die erforderlichen Fähigkeiten zum Entwickeln von Menschen und den Beziehungen zwischen ihnen. Deshalb sind sie überfordert, wenn Unternehmen von ihnen fordern, sie sollten Coachs ihrer Mitarbeiter sein. Diese Anforderung an Führungskräfte wird heute zwar oft formuliert, im Betriebs- und Führungsalltag aber nur selten umgesetzt – aus vielerlei Gründen. Dies zeigt sich zum Beispiel immer wieder, wenn man firmeninterne Entscheider fragt, was sie unter der sogenannten Coachingfunktion ihrer Führungskräfte verstehen. Dann listen sie faktisch meist nur die Aufgaben auf, die sie früher mit Begriffen wie kooperativer, partizipativer oder mitarbeiterorientierter Führungsstil umrissen haben. Dadurch dass man dieselben Aufgaben anders benennt, ändert sich jedoch nichts daran, dass den Führungskräften hierfür die nötige Kompetenz fehlt.

Im Umgang mit Unternehmen zeigt sich zudem oft, dass sie beschließen: Unsere Führungskräfte sollen ihre Mitarbeiter coachen. Doch anschließend werden diese kaum beim Entwickeln der hierfür nötigen Fähigkeiten unterstützt. Oft beschränkt sich die Unterstützung auf ein, zwei Seminare. Nur ganz selten wird den Führungskräften hingegen die Möglichkeit geboten, ihr Führungsverhalten zum Beispiel im Rahmen einer Supervision berufsbegleitend zu reflektieren, um Handlungsalternativen zu entwickeln.

Führungsprobleme sind in den meisten Firmen tabu

Dabei wäre dies sinnvoll. Auch weil in vielen Unternehmen noch eine Kultur existiert, in der es für eine Führungskraft zwar möglich ist, im Kollegenkreis daran zu zweifeln, ob eine technische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung von ihr richtig war. Nahezu tabu ist es aber, dass eine Führungskraft darüber nachdenkt, ob zum Beispiel ein Konflikt in der Zusammenarbeit darin begründet sein könnte, dass sie aufgrund ihrer Biografie ihre Führungsrolle falsch interpretiert. Für die meisten Unternehmen gilt: Ein solches Sich-in-Frage-stellen ist in ihnen ohne Gesichtsverlust nicht möglich.

Dabei wäre dies nötig. Denn wie sollen die Führungskräfte ihr Selbstverständnis sowie ihr Führungsverhalten verändern, wenn dieses im Betriebsalltag nicht thematisierbar ist? Und wie sollen sie ihre Mitarbeiter zu einem Hinterfragen und Verändern ihrer Denk- oder Verhaltensgewohnheiten motivieren (können), wenn sie selbst hierzu nicht bereit und fähig sind? Entsprechend wichtig wäre es, in den Unternehmen Foren zu schaffen, wo die Führungskräfte gemeinsam ihr Führungsverhalten reflektieren und zwar anhand von konkreten Herausforderungen, vor denen sie im Betriebsalltag stehen .

Genau dies geschieht bei einer Supervision. Hierbei treffen sich die Führungskräfte eines Unternehmens in regelmäßigen Zeitabständen, zum Beispiel alle sechs bis acht Wochen, zu einem Supervisionstag. Gemeinsam analysieren sie dann im Kollegenkreis ihr Vorgehen und Verhalten bei konkreten Aufgaben und Herausforderungen, vor denen sie in den zurückliegenden Wochen im Führungsalltag standen. Erarbeitet wird unter anderem „Was lief gut, was weniger gut?“, „Was waren die Ursachen hierfür?“ und „Was lernen wir daraus?“, bevor schließlich vereinbart wird: Was machen wir künftig anders? Dies alles geschieht unter Anleitung eines externen Beraters – also einer Person, die nicht in das System Unternehmen eingebunden ist.

Dies ist wichtig, weil nicht nur jede Person, sondern auch jedes System blinde Flecken hat. Das heißt: Seine (Mit-)Glieder haben gemeinsame Denk- und Verhaltensmuster, die sie nicht wahrnehmen. Deshalb muss ab und zu ein Externer dem System Unternehmen den Spiegel vorhalten, damit es seine blinden Flecken erkennt. Erst dann können sie bearbeitet werden.

Foren für Erfahrungsaustausch schaffen

Der Vorteil solcher regelmäßigen Supervisionssitzungen für ein Unternehmen ist: Seine Führungskräfte haben ein Forum, wo sie sich zeitnah über aktuelle Probleme im Führungsalltag austauschen können und von und mit Kollegen lernen. Und in dem Unternehmen entwickelt sich allmählich eine Kultur, in der auch (individuelle) Führungsprobleme besprechbar sind und nicht tabuisiert werden, so dass die Führungskompetenz der Führungsmannschaft immer weiter steigt.

Besonders fruchtbar und sinnvoll sind regelmäßige Supervisionstreffen, wenn die Mitglieder einer Organisation vor der Herausforderung stehen, künftig andere Denk- und Verhaltensmuster zu zeigen – zum Beispiel, weil sich der Markt gewandelt hat. Oder weil das Unternehmen umstrukturiert und eine neue Strategie formuliert hat. Oder weil sich durch das Einführen neuer Technologien die Arbeitsbeziehungen und -inhalte verändert haben. In all diesen Fällen ist ein partielles Um- oder Neulernen nicht nur der Mitarbeiter, sondern auch der Führungskräfte nötig. Das heißt, sie müssen gewohnte Denk- und Verhaltensmuster aufgeben und stattdessen neue Denk- und Verhaltensroutinen entwickeln. Das fällt fast allen Menschen schwer – nicht nur, weil sie sich ihrer Denk- und Verhaltensroutinen oft nicht bewusst sind, sondern auch, weil diese ihnen Sicherheit vermitteln. Also benötigen sie eine prozessbegleitende Unterstützung.

Entsprechendes gilt, wenn junge Mitarbeiter eines Unternehmens erstmals eine Führungsfunktion übernehmen. Auch dann empfiehlt es sich, ein Forum zu schaffen, wo sie sich zeitnah mit Kollegen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, über aktuelle Probleme im Führungsalltag austauschen können – nicht nur aufgrund ihrer noch bestehenden Verhaltensunsicherheit. Hinzu kommt: Aufgrund ihrer Unerfahrenheit können die jungen Führungskräfte vielfach, wenn Probleme beispielsweise bei der Mitarbeiterführung auftreten, noch nicht einschätzen: Was sind die Ursachen hierfür? Liegt es an meinem Verhalten, dass die Mitarbeiter „rebellieren“? Oder sind die Probleme situationsbedingt? Das heißt: Opponieren die Mitarbeiter zum Beispiel, weil sie im Rahmen einer Umstrukturierung gewisse Privilegien verlieren? Die Folge: Die jungen Führungskräfte interpretieren die Situation falsch und ziehen hieraus die falschen Schlüsse – zum Beispiel, weil sie ihr eigenes Verhalten als Ursache des Problems erachten, obwohl dieses faktisch situationsbedingt ist. In solchen Situationen ist es für junge Führungskräfte (mental) extrem hilfreich, wenn sie im Austausch mit Kollegen erfahren, dass diese mit ähnlichen Problemen kämpfen – also nicht sie die Ursache des Problems sind.

Zunehmend setzen gerade Hochleistungsorganisationen Supersvision jedoch nicht nur als temporäres Entwicklungsinstrument ein. Sie bieten ihren Führungskräften vielmehr dauerhaft die Chance, in regelmäßig stattfindenden Supervisionssitzungen ihr Führungsverhalten zu reflektieren – unter anderem, weil sie erkannt haben: Unser Unternehmensumfeld wandelt sich so schnell, dass unsere Führungskräfte eigentlich permanent vor der Herausforderung stehen, ihr Führungsverhalten zu überdenken. Sie haben zudem erkannt: Wenn unsere Führungskräfte regelmäßig im Kollegenkreis über ihr Führungsverhalten sprechen und dieses reflektieren, trägt dies auch zum Entwickeln einer gemeinsamen Führungskultur in unser Organisation bei.

Ulrich Dessel ist einer der beiden Geschäftsführer der Unternehmensberatung Nollens, Dessel & Kollegen in Soyen (Oberbayern). Die 1995 gegründete Mittelstandsberatung unterstützt mittelständische Betriebe beim Steigern ihrer Leistungskraft und Erhöhen ihres Outputs. Wir danken Herr Dessel ausdrücklich für seine Veröffentlichungsfreigabe.

Matthias C. J. Dannhorn