Nicht mehr Mutti oder Papi, sondern Sparringspartner

Bricht die Pubertät ihrer Kinder an, versuchten ratlose Eltern oft noch eine Turbo-Erziehung, bemängelt der dänische Familientherapeut Jesper Juul in seinem neuen Buch. Doch fürs Erziehen sei es jetzt zu spät; nun komme es auf die Qualität der Beziehungen innerhalb der Familie an. Obendrein darauf, den Kindern mehr Eigenverantwortung zu geben – und eigenen Ängsten dabei mutig zu begegnen.

Gelassen durch stürmische Zeiten zu steuern, ist eine große Kunst. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul, Autor mehrerer Erziehungsratgeber, möchte die Eltern pubertierender Kinder in diesem Sinne zu Künstlern machen. Das ist schon deshalb schwer, weil Gelassenheit keine übliche Reaktion von Erziehungsberechtigten ist, wenn ihre Kinder – die Töchter meist noch früher als die Söhne – „schwierig werden“, wie es dann gerne heißt.
„Wenn die Kinder etwa zwölf Jahre alt geworden sind, ist es für Erziehung zu spät“, schreibt Jesper Juul gleich zu Anfang seines neuen Buchs über die Pubertät. „Das sagen die Kinder uns auch, aber wir hören es meist nicht.“ Anfangs drückten sie es noch „sehr diplomatisch aus, doch wenn wir es nicht verstehen, müssen sie lauter werden, manchmal viel lauter. Oder sie sprechen mit ihrem Körper.“

Juul wurde 1948 in der kleinen Hafenstadt Vordingborg geboren. Wenn er die Welt, als er 15 Jahre alt war, „vergleiche mit der Welt von heutigen 15-Jährigen, scheint das manchmal ein ganz anderer Planet zu sein“. Damals hätten die Erwachsene von Kindern vor allem eines gewollt: „gehorsam zu sein“. Dies aber sei kein Rezept fürs 21. Jahrhundert.

Der Buchautor benutzt gerne den aus dem Boxsport stammenden Begriff „Sparringspartner“ für die Rolle, die Eltern in der Pubertät ihrer Kinder übernehmen sollten. Ein Sparringspartner biete „maximalen Widerstand und richtet minimalen Schaden an“.

Es sei für Jugendliche sehr bedeutsam zu wissen, was der Vater und die Mutter denken, was beiden Eltern wichtig ist. „99 Prozent der Jugendlichen nehmen die Meinung ihrer Eltern sehr ernst, wenn sich die Eltern die ersten Jahre in der Familie auch nur ein bisschen qualifiziert haben“, befindet Juul. Doch Jugendliche gäben dies nur selten zu, denn „sie müssen ihr Gesicht wahren“.

Das bedeute indes nicht, „dass die Worte der Eltern keinen Einfluss haben“. Entscheidend dabei sei allerdings die Güte der Beziehung, die sich in den ersten 13 Jahren des Lebens der Kinder zwischen ihnen und ihren Eltern entwickelt hat, „denn auf diesem Fundament baut alles auf“. .

Eltern sollten sich stets bemühen, Eltern sein – nicht etwa die besten, weil bei ihren Kindern beliebten Kumpel. „Viele Eltern möchten gerne irgendeine Art von erwachsener Freundschaft aufbauen“, schreibt Juul. Doch es gehe nicht länger an, „Mutti oder Vati spielen“ zu wollen, da so ein echter Kontakt zu den Kindern unterbunden werde. „Wenn ich Glück habe, bekomme ich schnell Enkelkinder und kann diese Rolle weiterhin schauspielern“, fügt Juul augenzwinkernd hinzu.

Wie also können Eltern es richtig machen? Juuls Antwort: „Gar nicht. Richtig gibt es nicht. Wir können uns aber entscheiden: Was wollen wir?“ Eltern sollten sich fragen: „Will ich meine Kinder lieben, oder will ich bei meinen Kindern beliebt sein?“ Beides gleichzeitig sei meist nicht möglich.
Kinder brauchten vor allem in den ersten zehn bis zwölf Lebensjahren gewisse Regeln, doch diese müssten „vernünftig vermittelt werden – also weder mit erhobenen Zeigefinger noch mittels Überwachung und Strafe“.
Doch was heißt vernünftig? Auch hier mache der Ton die Musik – und das gute Vorbild. „Der Umgangston und die Verhaltensweisen, die Eltern in dieser Zeit praktizieren, haben entscheidenden Einfluss darauf, wie Kinder sich später gegenüber Regeln verhalten“, urteilt Juul. Ein zu scharfer, kommandierender Ton lasse Kinder oft widerspenstig und zu überzeugenden Lügnern werden. „Auf der anderen Seite kann ein gleichgültiges und nachlässiges Elternhaus den Kindern das Gefühl vermitteln, sie seien den Eltern ebenfalls gleichgültig.“

Von Strafen hält Jesper Juul, der seit 35 Jahren mit Familien arbeitet, wenig bis nichts. Sie zählten „zur Kategorie Machtmissbrauch und sind im Übrigen auf längere Sicht vollkommen wirkungslos“. Demgegenüber sei der Ansatz, Sparringspartner der Pubertierenden zu sein, die „fruchtbarste und effektivste Methode der Eltern, größtmöglichen Einfluss auszuüben“.
Mütter und Väter sollten sich immer wieder fragen, warum sie so und nicht anders handeln und reden: „Geht es darum, dass ich meinem Kind helfen will, oder will ich mein Selbstbild verbessern?“ Oft richteten Eltern ihr Verhalten gegenüber den Kindern wesentlich daran aus, was ihnen ein gutes Gewissen verschaffe – unabhängig davon was für dieses ihr Kind in diesem Moment das Beste, weil Förderlichste sei.
„Wenn ich mir beispielsweise überlege, ob mein 13-jähriger Sohn für die Wahl seiner Freunde selbst verantwortlich sein kann, worum geht es mir dann?“, fragt Juul seine Leserschaft. „Geht es wirklich nur um das Wohl des Kindes? Oder geht es um mich? Um mein Selbstbild? Um mein Image in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule?“
Der Familientherapeut lädt Eltern dazu ein, sich ab und an Rückmeldung von ihren Kindern zu holen. Manchmal sei es notwendig zu fragen: „Ich versuche, dich zu unterstützen. Gelingt mir das?“

Eine Rückmeldung sollten sich Eltern allerdings unbedingt in günstigen Momenten zu holen versuchen – nicht auf Biegen und Brechen und wenn es ihnen selber gerade in den Kram passt. Notfalls müsse man eben einige Male bei den Kindern anklopfen und ihnen sagen, dass man gerne mit ihnen über etwas Wichtiges sprechen wolle. Nur wenn die Kinder sich immer wieder verweigern und einem Gespräch ausweichen, sollten Eltern dieses einfordern.
Juul macht Müttern und Vätern Mut, ihren Kindern mehr Eigenverantwortung zuzutrauen, statt sie ständig überwachen und umsorgen zu wollen. Der Gründer der „familylab“-Familienwerkstatt beklagt eine Hyperaktivität vieler Eltern, die notwendigerweise eine Unteraktivität der Kinder zur Folge habe.

Den größeren Kindern die Verantwortung für die Schulaufgaben zu überlassen – zumindest probehalber auf absehbare Zeit, fordere Mütter und Väter heraus. Über ihre Ängste dabei dürften sie nicht mit ihren Sprösslingen sprechen, rät Juul, sondern mit anderen Erwachsenen. Und nicht selten stehe es für Eltern eher an, sich mehr um sich selber, das eigene Leben, die eigenen Zufriedenheit zu kümmern als diese Energie auf darauf zu verwenden, ihre Kinder übertrieben zu umhegen.
Das Fazit des Buchautors: „Was unsere Kinder in der Pubertät von uns brauchen, ab zwölf, 13,14 Jahren, ist eigentlich nur das: zu wissen, auf dieser Welt gibt es einen oder zwei Menschen, die wirklich glauben, dass ich ok bin.“ Mit einem solchen Menschen könne man „gut überleben, mit zwei kann man wunderbar leben“. Doch die Haltung „Mein Kind ist in Ordnung“ sei in Mitteleuropa nicht üblich. „Wir verhalten uns eher wie Lehrer, sitzen mit einem Rotstift da und schauen, was noch nicht richtig ist.“

Stichwort „Pubertät“
Der Begriff ist abgeleitet vom lateinischen Wort „pubertas“, was Geschlechtsreife bedeutet. Mädchen in Mitteleuropa durchleben diesen umwälzenden Lebensabschnitt üblicherweise in der Zeit vom 10.-18., Jungen vom 12. bis 20. Lebensjahr. Auslöser sind spezielle Hormone (Gonadotropine), die von der Hirnanhangdrüse in den Blutstrom ausgeschüttet werden, woraufhin die jeweiligen Geschlechtsorgane wiederum verstärkt Geschlechtshormone ins Blut absondern – bei Jungen vor allem Testosteron, bei Mädchen Oströgen. Der Beginn der Pubertät ist von mehreren äußeren Faktoren abhängig – wesentlich von Erbanlagen, aber auch von der Ernährung des Kindes, sportlicher Aktivität und dem sozialen Milieu, indem ein Kind aufwächst.

Der Artikel erscheint mit der freundlichen Genehmigung des Autors Walter Schmidt.
In Auszügen ist der Artikel bereits am 26.10.2010 in der SÜDWEST PRESSE erschienen.
Walter Schmidt ist freier Journalist in Bonn und Autor des Sachbuchs „Dicker Hals und Kalte Füße – Was Redensarten über Körper und Seele verraten“, erschienen 2011 beim Gütersloher Verlagshaus (www.gtvh.de).