Von Eingangsprüfungen und Mottenkisten

Wer vor Jahrzehnten auf eine weiterführende Schule wollte, musste sich einer separaten Prüfung unterziehen. Die Einwände gegen dieses Verfahren lagen auf der Hand. Es könne doch nicht sein, dass punktuelle Tagesleistungen darüber entscheiden, wie die weitere Bildungsbiografie gestaltet würde. Ohnehin sei der Bildungsstand eines Menschen nicht exakt zu messen. Auch wisse man seit langem, dass „Intelligenz“ nicht ausschließlich angeboren sei, sondern eben auch durch Umwelteinflüsse geprägt werde. Daher wäre es doch viel klüger, den gesamten Bildungsverlauf in den Jahren zuvor zum Maßstab für die weitere schulische Entwicklung zu nehmen. Das Ergebnis ist bekannt. Man kippte die Eingangsprüfungen – zu ungerecht, zu selektiv, ja fast schon menschenverachtend.

Die großen internationalen Vergleichsstudien des letzten Jahrzehnts stellten der Bundesrepublik schlechte Zeugnisse aus. Unser System bringe mittelmäßige Leistungen hervor, sei dafür aber vor allem ungerecht. Zu stark determiniere der soziale Status den Bildungsverlauf von Kindern und Jugendlichen. So stark wie in fast keinem anderen Land. Welch dramatischer Befund, dass in Deutschland ein Kind aus der Oberschicht gegenüber einem Schüler aus einer Facharbeiterfamilie bei gleicher Intelligenz und gleichen Fachleistungen eine viereinhalb Mal so große Chance besitzt, ein Gymnasium zu besuchen. Wahrlich kein Ruhmesblatt für die akademisch gebildete Lehrerschaft, die hierfür zwar nicht allein, aber zumindest mitverantwortlich sein dürfte.

Diesen Befund bestätigte vor wenigen Wochen eine breit angelegte Untersuchung der Vodafone-Stiftung: Kinder aus sozial benachteiligten Familien erhalten danach bei gleicher Leistung in standardisierten (!) Testverfahren in der Schule schlechtere Noten als Kinder aus sozial begünstigten Elternhäusern. Die Herkunft wird also von den Lehrern kräftig mit zensiert. Nur zu 49 Prozent erklärt die Leistung der Schüler die Note. Bei dem Geld, das Deutschland in seine Schulen steckt, abermals ein bemerkenswertes Resultat – um es vorsichtig auszudrücken.

Nun wenden kluge Leute ein, man benötige auch deswegen einen Paradigmenwechsel in der Lehrer-Ausbildung, die sich immer noch zu stark an scheinbar homogenisierbaren Leistungsabstufungen orientiere. Viel besser sei es, die Andersartigkeit und die Individualität der einzelnen Schüler zum Ausgangspunkt pädagogischen Handelns zu erklären. „Diversität“ sei das Gebot der Stunde. Man benötige einen pädagogischen Ansatz der „konstruktiven Differenz“. Schließlich sei ja jeder Schüler anders. Wohl wahr! Und doch: Studien wie die der Vodafone-Stiftung weisen eindrucksvoll nach, wie „erfolgreich“ die bundesdeutsche

Schulwirklichkeit dabei ist, die Andersartigkeit von Schülerinnen und Schülern beim Übergang in die nächst „höhere“ Schulstufe tatsächlich angemessen zu beurteilen. Kann man da ernsthaft darauf hoffen, durch veränderte Ausbildungskonzepte und verbesserte Fortbildung der Pädagogen eine grundlegende Umkehrung des Befunds herbeizuführen? Wohl kaum.

„Jeder nach seinen Fähigkeiten – jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Hierin sah Karl Marx im späten 19. Jahrhundert ein wichtiges Strukturelement einer in seinen Augen gerechteren, „klassenlosen Gesellschaft“. Eine „klassenlose Schulgesellschaft“ jedenfalls scheint bei uns nach wie vor noch in sehr weiter Ferne zu liegen. Wäre es da nicht ehrlicher, die verpönten Schuleingangsprüfungen wieder aus der Mottenkiste zu holen, in die sie die moderne Pädagogik verbannte? Würden zentral erstellte und anonym durchgeführte Eingangsprüfungen nicht gerade für die zahlreichen fähigen jungen Menschen aus sozial problematischen Verhältnissen genau die Chancengerechtigkeit bieten, die ihnen das derzeitige System offenkundig verwehrt?

Klaus Gräbener

Der Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung von Herrn Klaus Gräbener. Herr Gräbener ist im Bereich Aus- und Weiterbildung Ansprechpartner bei der IHK Siegen.