„You’re not special!“

Jedes Jahr, so ungefähr um die gleiche Zeit, erhalten viele Schulabgänger ihre Zeugnisse. Jedes Mal spielt sich auch so ungefähr immer das gleiche Ritual ab – die Schulabgänger werden gelobt und mit besten Wünschen geehrt!
Überall, wo es solche Abschlussveranstaltungen gibt, kann man das beobachten.

Jetzt hat ein Englischlehrer an der noblen Wellesly High-Scholl in der Nähe von Bosten eine außergewöhnliche Abschlussrede an die diesjährigen Absolventen gehalten. Eine Rede, die über die Grenzen der Schule und über die Grenzen der USA hinaus für Furore gesorgt hat.

Er hat nämlich kurz nach der Einleitung, wie gewohnt und erwartet, aber auch schon in recht deutlichen und humorigen Worten Bilanz gezogen. Da spricht er von den Lehrer, von den Eltern, von den Tutoren und Begleitern, die vieles für dieses Augenblick gemacht haben. Von den Absolventen selbst, die für dieses Tag gearbeitet haben, von den einmaligen Dingen, die bis zu diesem Tag geschehen sind und schließt diese Einleitung mit den Worten: „Aber bitte kommt nicht auf die Idee, dass Ihr etwas Besonderes seid. Ihr seid es nicht!“*

Welch eine Behauptung und Mahnung zu solch einem Zeitpunkt. Da steht ein Lehrer vor versammelter Mannschaft, hält die ehrenvolle Abschlussrede, viele sind stolz auf das Erreichte und dann kriegt man so was gesagt?!

Aber Herr McCullough ist sich im Klaren darüber, was er sagt. Im weiteren Verlauf seiner Rede erläutert er den Zuhörern: „“Aber Dave“, werdet ihr jetzt sagen, „Walt Whitman hat mich gelehrt, ich sei ein Ausdruck der Perfektion. Epiktet sagt, ich trage den Funken Zeus‘ in mir!“ Ich sage nicht, dass das falsch ist. Es ist nur so, dass es 6,8 Milliarden Exemplare von Perfektion gibt und 6,8 Milliarden Funken des Zeus. Wenn jeder etwas Besonders ist, dann ist es niemand mehr. Wenn jeder eine Auszeichnung bekommt, dann gelten Auszeichnungen nichts mehr.“

Was will er den Absolventen nur mit auf den Weg geben? Will er sie nur provozieren, oder hat er auch noch eine Botschaft für sie? Er hat eine und was für eine!

„Bevor ihr nun alle auseinander geht, möchte ich euch dringend um eines bitten: Tut, was ihr vorhabt, nur aus dem einzigen Grund, dass ihr es gern macht und es für wichtig haltet. Macht es euch nicht in der Gleichgültigkeit gemütlich. Schlagt euch nicht mit Arbeiten herum, an die ihr nicht mehr glauben könnt. Widersteht den Versuchungen der Gleichgültigkeit, dem trügerischen Glitzern des Materialismus. Zeigt euch eurer Talente würdig. Und lest, lest die ganze Zeit, lest aus Prinzip, aus Respekt vor euch selbst. Lest, als wäre Lektüre ein menschliches Grundnahrungsmittel. Entwickelt und schützt euer Gespür für moralische Fragen und habt genügend Charakterstärke, moralische Grundsätze auch umzusetzen. Träumt groß. Arbeitet hart. Denkt selbstständig. Liebt, was und wen ihr liebt, mit all eurer Kraft. Und geht dabei bitte mit einem gewissen Sinn für Dringlichkeit vor, denn die Uhr tickt, und es gibt nicht nur Abschlüsse, sondern auch Abschiede – nicht jedes Kapitel eures Lebens wird so freudig zu Ende gehen wie dies an diesem Nachmittag. Das erfüllte Leben, das besondere Leben, das wirkliche Leben, das ist eine Leistung und nicht etwas, das einem in den Schoß fällt, weil man ein netter Mensch ist oder weil Mami es beim Zimmerservice bestellt hat. Die Gründungsväter unserer Nation haben gelitten, um das Recht auf Leben, Freiheit und Glücksstreben zu erstreiten. Ein Recht, das euch unabweisbar zusteht, und das, so finde ich jedenfalls, einem nur wenig Zeit dazu lässt, herum zuhängen und auf YouTube Papageien beim Rollschuhfahren zuzuschauen.
Besteigt den Berg nicht, um dort eine Fahne zu hissen, sondern wegen der Herausforderung. Besteigt den Berg, damit ihr die Welt sehen könnt, nicht damit die Welt euch sieht. Fahrt nach Paris, um in Paris zu sein, und nicht um die Stadt von einer Liste abzuhaken. Übt euch in freiem Willen und kreativem, unabhängigem Denken, und dies nicht aus Eigennutz, sondern weil ihr dadurch anderen Gutes tun könnt – dem Rest der 6,8 Milliarden Menschen.
Dann werdet ihr sie entdecken, diese großartige Wahrheit menschlicher Existenz: dass Selbstlosigkeit das Beste ist, was man für sich tun kann. Die schönsten Freuden des Lebens kommen nämlich erst mit der Einsicht, dass man nichts Besonderes ist. Weil es jeder ist.

Herzlichen Glückwunsch. Macht aus eurem Leben, zu eurem Wohl und zu unserem, bitte etwas Außerordentliches.“*

Dieser David McCullough spricht mir aus dem Herzen und ich bin froh, dass es immer wieder solche mutigen Menschen gibt, die in den richtigen Momenten die richtigen Worte für junge Menschen haben.

Hier gibt jemand den Absolventen einen menschlichen Auftrag. Er stellt sie in die Verantwortung zu den Mitmenschen und zu sich selbst. Der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau hat dies einmal in dem Satz: „Das Mark des Lebens in sich aufnehmen.“ zusammengefasst. sicherlich ist McCullough dieser Autor bekannt und irgendwie kann ich mich dem Eindruck nicht verschließen, dass er als Englischlehrer von diesem Gedankengut beeinflusst ist.

Ich bin begeistert und wünsche allen Schulabgängern solch eine Botschaft.

Auf dem Onlineportal der WELT hat eine Redakteurin einige Passagen in das Deutsche übersetzt. Die mit * gekennzeichneten Passagen dieses Artikels stammen aus der Veröffentlichung der Welt Online und sind daraus zitiert.

Den Originaltext kann ich Ihnen hier als PDF zur Verfügung stellen. Auf Youtube gibt es eine Aufzeichnung der gesamten Abschlussrede.

Matthias C. J. Dannhorn